Markus Meckel war von 1990 bis 2009 Mitglied des Bundestags und ist Präsident des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge e.V. Weitere Informationen zum Festredner im Internet unter www.markusmeckel.eu
Foto: Benjamin Gutzler
Und es bestand dennoch weiter
Festrede von Markus Meckel, ehemaliger Klosteraner und ehemaliger Außenminister der DDR
Wir begehen heute festlich den 50. Jahrestag der Übernahme der altehrwürdigen Tradition des Grauen Klosters an dieser Schule [Evangelisches Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin-Wilmersdorf], einer Tradition über weitaus mehr als vier Jahrhunderte. Nur wenige andere Schulen im Osten Deutschlands weisen eine solche Tradition auf, wie etwa Schulpforta in Thüringen oder die Franckeschen Stiftungen in Halle. Diese Tradition zu feiern ist nun wirklich ein besonderer Anlass.
Dass Sie zu diesem Tag jemanden zur Festrede einladen, der zwar der Tradition des Grauen Klosters verbunden ist, aber nie Schüler an dieser Schule hier war, verstehe ich als ein deutliches Signal der Offenheit für die mit diesem Erbe verbundenen Fragen. Das begrüße ich sehr und stehe jetzt wirklich von Herzen gern hier.
Von 1967 – 1969 war ich selbst Schüler des Grauen Klosters – und zwar im Osten der Stadt, in jener Zeit also, als die Schule dort diesen Namen nicht mehr tragen durfte. Trotzdem war uns Jugendlichen, bestärkt durch einige unserer Lehrer, stolz bewusst, in dieser besonderen Tradition zu stehen. Hier sitzen heute auch noch andere mit im Raum, die eben diese Erfahrung teilen. Knut Elstermann, der knapp zehn Jahre nach mir noch ihr Schüler war, hat unter anderem genau diese Erfahrung in seinem Buch Klosterkinder sehr eindrücklich – weil sehr persönlich und zugleich historisch zutreffend – beschrieben.
In den Jahren des Kalten Krieges nach dem Mauerbau gab es sowohl im Osten als auch im Westen Berlins Hunderte von Schülern, hier wohl sogar Tausende, die mit Überzeugung im Grauen Kloster lernten – aber sie wussten nichts oder wenig voneinander.
Christian-Friedrich Collatz, einer meiner damaligen Mitschüler, erzählte mir beispielsweise, dass er vom Evangelischen Gymnasium zum Grauen Kloster im anderen Teil der Stadt erst erfuhr, als Verwandte eine Jubiläumsbriefmarke aus dem Westen schickten. Nach 1989 war das Erstaunen entsprechend groß, als viele erst dann entdeckten, dass es da ja seinerzeit auch die anderen gab. Natürlich – wie sollte es anders sein – kam damit auch die Frage auf, wie berechtigt die jeweils andere Seite denn überhaupt dieses Bewusstsein, „Klosteraner“, ehemaliger Schüler des Grauen Klosters zu sein, in sich tragen dürfe. Ich weiß, dass bei dem einen oder anderen auch gegenwärtig noch diesbezügliche Zweifel bestehen. Übrigens fußen beide Perspektiven auf guten Argumenten:
Die einen können sagen: 1958 erfolgte die Umbenennung des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster in der Niederwallstraße in 2. Erweiterte Oberschule Berlin Mitte. Auf diese Weise brach die SED eine von ihr ungeliebte Tradition ab und unterwarf die Schule dem sozialistischen Bildungssystem.
Die anderen können sagen: Was hat denn das Evangelische Gymnasium zum Grauen Kloster im Grunewald mit der Geschichte des Grauen Klosters zu tun, das war doch nur eine reine Okkupation, eine Anmaßung!
Beide Ansichten leuchten formal ein – und doch glaube ich, beide greifen zu kurz. Schauen wir zurück auf die Vorgänge Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre:
Deutschland war nach den Schrecken, die von uns Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus und des 2. Weltkrieges ausgegangen sind, geteilt. Geteilt war damit auch diese Stadt. West-Berlin galt – als der freie und demokratische Teil – als Vorposten des Westens. Gleichzeitig war es Symbol der Hoffnung und Ziel für viele im Osten, die unter den zunehmend schwierigen Verhältnissen kommunistischer Herrschaft litten. Mehr als 2 Millionen Menschen verließen bis zum Mauerbau die DDR und gingen in den Westen, nicht zuletzt über West-Berlin.
Wer in Ost-Berlin lebte, schickte nicht selten seine Kinder im Westen aufs Gymnasium. Zugleich gab es das Graue Kloster, das nach der Zerstörung durch Bomben schließlich in der Niederwallstrasse seine Arbeit fortsetzte (in dem Gebäude einer früheren Berufsfachschule für das Konfektionsgewerbe). Es behielt nicht nur seinen alten, berühmten Namen, es führte sein humanistisches Erbe fort, Griechisch und Latein gehörten weiter zum Lehrplan.
Allerdings war der Druck von außen groß. Während die Schule in der NS-Zeit ziemlich „durchbräunt“ war, sollte sie nun in die sich sozialistisch nennende Welt eingefügt und angepasst werden. Das führte zu vielfältigen Schwierigkeiten, denn Lehrer und Schüler fühlten sich weitgehend einem anderen Erbe verpflichtet.
Der Tradition folgend war der jeweilige Propst von St. Marien Ephorus des Berlinischen Gymnasiums und gleichzeitig Repräsentant der Streitschen Stiftung, die das Vermögen verwaltete. Allein schon dies passte natürlich überhaupt nicht ins Bild eines sozialistischen Schulbetriebes.
Es war Heinrich Grüber, der in den fünfziger Jahren als Propst die eben benannten Funktionen innehatte. Er genoss allgemein große Achtung, nicht zuletzt wegen seines Einsatzes für die verfolgten Juden in der NS-Zeit, weswegen er in den Konzentrationslagern Dachau und Sachsenhausen inhaftiert war. Selbst ein solcher Mann hinderte die sozialistische Schulbehörde aber nicht daran, seinen Einfluss und damit den der Kirche zurückzudrängen. In diesem Zusammenhang muss auch der Rolle von Bischof Dibelius und seines streitbaren Engagements gedacht werden. Die evangelische Kirche war ja in dieser Zeit auch institutionell noch eins in Ost und West, es gab also eine Synode und einen Bischof! Mit dem Mauerbau wurde es dann bekanntermaßen zunehmend schwerer, dies praktisch aufrechtzuerhalten.
Der Anteil an FDJ-Mitgliedern war am Grauen Kloster – für das Regime – erschreckend niedrig. Wohl auch deshalb wurde 1954 neben dem altsprachlichen C‑Zweig ein R‑Zweig etabliert. Das waren Klassen mit verstärktem Russischunterricht. Dies wiederum zog dann auch vermehrt Kinder aus der kommunistischen Elite an, womit sich an der Schule eine unverwechselbare Mischung ergab. Die traditionelle Prägung und das Bildungsniveau verliehen dieser Schule im sozialistischen Umfeld den Ruf des Besonderen und eine große Anziehungskraft.
Ein hoher Anteil der Schüler gehörte zur Jungen Gemeinde, sie war in der Jugendarbeit der evangelischen Kirche aktiv. Das führte in den Zeiten des Kirchenkampfes 1952/53 zu vielen Konflikten. Immer wieder wurden unbotmäßige Schüler relegiert, also der Schule verwiesen (so erging es mir ja selbst dann 1969 auch). Wer sein Abitur erhielt, steuerte anschließend nicht selten direkt den Westen an – 1957 soll es sogar ein fast vollständiger Jahrgang gewesen sein.
Der Rektor des Berlinischen Gymnasiums, Prof. Plagemann, ein renommierter Altphilologe und Autor eines lateinischen Schulbuchs, kämpfte für den Erhalt der Tradition als einer lebendigen Realität. Für die einen, die Mehrheit der Lehrer und Schüler, war die Schule ein Refugium humanistischer Bildung, für die Herrschenden jedoch zunehmend Relikt einer als reaktionär charakterisierten Tradition.
Am 15. Juni 1958 erklärte Walter Ulbricht in seiner Rede vor dem ZK der SED: „Es gibt eine Oberschule, das ‚Graue Kloster‘, von der 27 Prozent der Schulabgänger nach Westberlin und Westdeutschland gehen. Das heißt, wir bilden tatsächlich einen Teil der Jugendlichen für Westdeutschland aus. Sie sprechen auch während des Unterrichts ganz offen darüber, dass sie die Absicht haben, nach Beendigung der Studienzeit nach Westdeutschland zu gehen. Unter diesen Bedingungen steht also die Frage: Wie sollen diese Quellen der Republikflucht verstopft werden?“
Nach diesem Angriff ließ der Vollzug der Exekutive nicht lange auf sich warten. Am 20. Juni 1958 fasste der Magistrat den Beschluss der Umbenennung und Umgestaltung der Schule. Beinahe die Hälfte der Lehrer musste die Schule verlassen. Rektor Plagemann wurde in den Ruhestand versetzt und sein staatstreuer Stellvertreter Walter Franz, schon lange bemüht, die „reaktionären“ Traditionen zurückzudrängen, übernahm das Direktorenamt. Damit schien das Erbe des Grauen Klosters an der Schule beseitigt. So jedenfalls war es offiziell und rechtlich.
Elstermann formuliert in seinem bereits erwähnten Buch auf Seite 217 sehr zutreffend: „Das Graue Kloster hatte aufgehört zu existieren, und es bestand dennoch weiter.“ Zu dieser letzten Behauptung komme ich gleich.
Die Vereinigung ehemaliger Klosteraner, ein bis heute aktiver Verein, gegenwärtig vertreten durch den Vorsitzenden Georg Dybe, wie auch die Evangelische Kirche bemühten sich seinerzeit darum, dass die Jahrhunderte alte Tradition im Westen aufgenommen und weitergeführt würde. Nach verschiedenen anderen Überlegungen fiel die Wahl auf das Evangelische Gymnasium im Grunewald, das schon vorher in gewisser Weise Auffangbecken für aus dem Osten geflohene Schüler war und ihnen einen Anschluss an das westliche Bildungssystem ermöglichte. Ihr damaliger Direktor Hans Seeger spielte dabei eine aktive Rolle. Bei dem Festakt der Traditionsübernahme 1963 hielten schließlich auch Bischof Dibelius und Propst Grüber eine Rede.
Über die nun 50 zurückliegenden Jahre dieses Hauses kann ich wenig sagen. Das wird nachher im Podium eine Rolle spielen. Ich kann Ihnen nur davon erzählen, wie es im Osten der Stadt, in der Niederwallstraße, weiterging, denn es ging weiter mit dieser Tradition, die Verwaltungsentscheidung des kommunistischen Staates konnte das lebendige Bewusstsein der betroffenen Lehrer und Schüler nicht auslöschen.
Lehrer wie Schüler waren von den willkürlichen Entscheidungen der SED und der Schulbehörden 1958 überrascht worden. Norbert Meisner, der spätere West-Berliner Senator, machte damals gerade sein Abitur und berichtete später über diese Vorgänge. Er beschrieb zum Beispiel, dass die FDJ-Vollversammlung die Entscheidung begrüßen sollte – doch das waren fast ausschließlich die Schüler der Russisch-Klassen. Er selbst gehörte zu den Schülern des C‑Zweiges (also zu den die Tradition verkörpernden Altsprachlern, die mehrheitlich nicht FDJ-Mitglieder waren) und forderte mit seinen Mitstreitern in einer Unterschriftensammlung eine Schülervollversammlung. Dem folgten massive Einschüchterungsmanöver, mit dem Resultat, dass diese nicht stattfand – und er hier am Gymnasium im Grunewald seine Schullaufbahn beendete (noch vor der Traditionsübernahme).
Was im Selbstverständnis der Akteure im Westen eine Rettung der alten Tradition des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster war, die man nicht sterben lassen wollte, stellte sich für manche der Schüler im Osten als unberechtigte Anmaßung dar. So wurde mir erzählt, dass etwa Lothar de Maiziere, später mein Koalitionspartner in der letzten, frei gewählten DDR-Regierung, bis heute sehr emotional auf diese damaligen Vorgänge reagiert. Hermann Simon, Direktor des Centrum Judaicum, könnte über diese kritische Stimmung mehr erzählen.
Unabhängig von solchen – durchaus verständlichen – Emotionen aber gilt es anzuerkennen: Seitdem gab es also zwei Orte, an denen die Tradition des Grauen Klosters bewusst bewahrt wurde und Schüler sich affirmativ auf sie bezogen – hier im Westen ganz offiziell mit den besseren Möglichkeiten einer funktionierenden Institution in einem demokratischen Gemeinwesen, im Osten dagegen als bildungsbürgerliche Subkultur – immer auch ein Stück unbestimmt und subversiv, mehr in den Köpfen der verschiedenen Schülergenerationen und in den Versuchen einiger Lehrer, diese trotz aller offiziellen Ideologie faktisch fortzuführen.
Ich selber war mir in den Jahren am Grauen Kloster durchaus bewusst, Teil einer alten Tradition zu sein und identifizierte mich mit ihr, wenngleich ich dies Bewusstsein – rückblickend betrachtet – auch als „etwas diffus“ bezeichnen würde. Ich wusste, dass Johann Crüger, Johann Gottfried Schadow, Friedrich Schleiermacher, Karl Friedrich Schinkel und auch Otto von Bismarck an dieser Schule waren – aber wenig von den Bildungskonzeptionen früherer Zeiten. Mir waren die alten Sprachen wichtig, denn ich wollte Theologie studieren!
Auch in meiner Klasse am Grauen Kloster trafen Schüler aus ganz verschiedenen geistigen und politischen Hintergründen aufeinander – also aus stark kirchlich geprägten Elternhäusern, andere aus wiederum bewusst und überzeugt kommunistischen Familien.
Unser Klassenleiter, Dr. Karl Jüling, drang auf argumentative Auseinandersetzung. Ein Jahr lang fragte er mich, den 15-Jährigen, jede Woche zur Politinformation nach meiner Meinung zum jeweiligen Thema. Als er diese dann frank und frei bekam, diskutierte er mit mir, bis ich argumentativ schachmatt war. Am Ende des Schuljahres – ich weiß das noch heute – thematisierte er die Erhöhung des Zwangsumtausches für Besucher aus West-Berlin – und hatte schließlich selbst keine Argumente mehr. Ich bin damals sehr stolz nach Hause gegangen!
Wir damaligen Schüler verehrten und verehren diesen Lehrer bis in die Gegenwart hinein, versuchte er doch, uns zu mündigen und selbstbestimmten Menschen zu erziehen, an einer sozialistischen Schule keineswegs eine Selbstverständlichkeit.
Ich denke auch an den genialen Kurt Kubitzky, mit dem Mathematik zur Freude werden konnte, jedenfalls ging es mir so. Oder an Dr. Peter Helms, der als Altphilologe einen Glücksfall für die Schule darstellte, weil er der Garant dafür war, dass nicht nur die alten Sprachen, sondern auch antikes Denken im Unterricht lebendig wurde. Nicht wenige in der Klasse wollten ja Archäologen werden und lernten bei ihm, im Alten Neues zu entdecken und geistigen Zusammenhängen nachzuspüren.
Ein wichtiger Träger der alten Tradition war auch der langjährige und Generationen prägende Musiklehrer Gerhard Plüschke. Er baute Chor und Orchester auf, jeweils in mehreren Sparten, machte Konzertreisen, schuf Heimat im Musischen und Zusammenhalt jenseits der Ideologie. Für viele unvergesslich war die Erarbeitung der Oper von Brecht und Weill Der Ja-Sager und der Nein-Sager, die dann auch im Brecht-Theater am Schiffbauerdamm zur Aufführung kam, ein Riesenerfolg wurde und sogar Erwähnung in der internationalen Presse fand.
Auch nach 1958 gab es an dieser Schule im Osten immer ‑wieder Beispiele selbstständigen Denkens und widerständigen Verhaltens. So weigerte sich die FDJ-Gruppe meiner Klasse 1968, eine Zustimmungserklärung zum Einmarsch der Truppen in die CSSR abzugeben. Das war ungewöhnlich! Zwei Schülerinnen der Schule, Erika Berthold und Rosita Hunzinger – beide Kinder von sogenannten „Größen“ in der DDR–Hierarchie – verbreiteten mit Freunden Flugblätter gegen den Einmarsch. Ich war damals nicht so mutig und schämte mich dafür; ich habe nur deutlich gesagt, was ich dachte. Allein dies aber reichte dann auch aus, die Schule zwangsweise verlassen zu müssen.
Vieles könnte nun von dieser Schule im Osten und ihrem subversiven Selbstverständnis als „Graues Kloster“ noch erzählt werden. Ich würde mir wünschen, dass diese Geschichte einmal systematisch aufgearbeitet wird, dass die Geschichten der Betroffenen zusammengetragen werden. Denn das Graue Kloster im Osten, das seines Namens beraubt war, war mit dieser großen Tradition im Rücken eine wirklich besondere Schule.
Wir, die wir einst im gleichen Klassenverband lernten, halten bis heute regelmäßigen Kontakt zueinander. Im vergangenen Jahr verbrachten wir beispielsweise ein gesamtes Wochenende gemeinsam, um uns ganz speziell darüber auszutauschen, wie jeder Einzelne von uns diese Schuljahre, die Zeit in der DDR, jene des Umbruchs und die danach erlebte und davon mitgeprägt wurde. Das Vertrauen war trotz der sehr unterschiedlichen Herkünfte und Lebenswege so groß, dass wirklich offene und nachhaltig beeindruckende Gespräche möglich waren.
Meine Damen und Herren, mir scheint es insgesamt wichtig, dass die einstigen Schüler aus Ost und West stärker in den Austausch kommen über ihre je eigenen Erfahrungen in der Niederwallstraße und hier in der Salzbrunner Straße, überhaupt mehr voneinander erfahren, denn wir gehören heute nun einmal in eine gemeinsame Tradition. Deshalb bin ich für die Einladung hierher dankbar. Ohne die Traditionsübernahme hier am Evangelischen Gymnasium zum Grauen Kloster hätte die Geschichte des Grauen Klosters 1984 endgültig ihren Abschluss gefunden, als nämlich diese Schule im Osten mit der Heinrich-Schliemann-Schule zusammengelegt wurde.
Wir damaligen Ost-Berliner sollten uns also freuen, dass diese Tradition, die wir auch als die eigene betrachten, hier lebendig gepflegt wird. Es reicht ja nicht, in einem geschichtlichen Zusammenhang zu stehen, Tradition entsteht erst, wenn die geistigen Grundlagen als eigenes Erbe angeeignet, lebendig gehalten und in die jeweils eigene Zeit transformiert werden. Das wiederum ist auch eine Frage der Entscheidung. Die Fortführung des Grauen Klosters an diesem Standort war in gewisser Weise schon eine willkürliche Entscheidung – aber eine segensreiche, denn sie hat einer bedeutsamen Tradition Zukunft gegeben. Und gerade das gilt es heute zu feiern.
Von hier ist dann vor Jahren auch die Initiative ausgegangen, dafür zu kämpfen, dass das Graue Kloster am alten Standort bei der Klosterkirche wieder entsteht. Dass Klosteraner aus Ost und West in dieser Initiative zusammenwirken, ist durchaus bemerkenswert und erfreulich. In diesem Zusammenhang werden die Fragen von Tradition und Namen noch einmal neu aufkommen, denn diese wird dann natürlich wieder Berlinisches Gymnasium zum Grauen Kloster heißen müssen! Wie sonst …
Ich gehöre dem Kuratorium an und vertrete die Ansicht, dass wir auch sehr differenziert über das Konzept am neuen alten Ort nachdenken müssen. Eine Verdoppelung des hiesigen humanistischen Gymnasiums wäre trotz der hohen Bewerbungszahlen nicht wirklich zielführend. Ich meine, wir sollten uns bei unseren Überlegungen sowohl der Tradition als auch den neuen Herausforderungen stellen und verpflichtet fühlen. Meines Erachtens sollte unter bewusster Hintansetzung der Naturwissenschaften die europäische Kultur- und Geistesgeschichte im Vordergrund stehen. Diese Kompetenz ist heute ein Desiderat in der Gesellschaft. Dafür wäre ein Konzept zu entwickeln, in welchem Geschichte, Philosophie, Kultur und Religion (Judentum, Christentum, Islam – jeweils authentisch gelehrt!) Schwerpunkte der Ausbildung darstellen. Dazu gehören selbstverständlich auch alte und neue Sprachen, in welchem Maße, wäre zu diskutieren.
Das ist zwar noch „Zukunftsmusik“, aber es lohnt sich, sich heute darüber Gedanken zu machen! Hier und heute geht es aber erst einmal um die Erinnerung und den Dank – den Dank dafür, dass die Tradition des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster hier eine neue Heimat fand. Auf diese Tradition gibt es kein Monopol. Jeder ist willkommen, der sie pflegt und lebendig hält.
Sie tun dies – und deshalb sei Ihnen allen gedankt, jenen, die damals alles auf den Weg brachten, jenen, die sich in den zurückliegenden Jahrzehnten dafür engagierten, und Ihnen, die diese Geschichte bis heute lebendig halten und in die Zukunft tragen. Ich danke Ihnen.
Festrede zum 50. Jahrestag des Evangelischen Gymnasiums zum Grauen Klosterin Wilmersdorf, in: DAS GRAUE KLOSTER 2014, S. 22 ff.