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Bisch­off Wolf­gang Huber
Foto: Benja­min Gutzler

Der Nächste bitte! – Verantwortung lernen – der wichtigste Bildungsinhalt überhaupt

Bischof Dr. Wolfgang Huber

Predigt in einem Rundfunkgottesdienst am 06. 09. 2009 zum Text Lukas 10,25–37

„Der Nächste bitte!“ Wer kennt das nicht? Gedan­ken­ver­lo­ren sitze ich im Warte­zim­mer des Arztes und schre­cke plötz­lich hoch: „Der Nächste bitte!“ Die Arzt­hel­fe­rin schaut mich freund­lich an und nickt mir zu. Schnell erhebe mich von meinem Stuhl; beinahe hätte ich verpasst, dass ich endlich dran bin und dem Arzt meinen schmer­zen­den Knöchel zeigen kann.

Der Nächste bitte! Der Nächste – wer ist das, wenn es keine Arzt­hel­fe­rin gibt, die das entschei­det? Ich möchte selbst gern der Nächste sein. Aber ich will ihn auch erken­nen, den, der jetzt dran ist, den Nächs­ten, auch wenn es keine Nummern zum Ziehen gibt, die das regeln wie im Bürger­amt, beim Hair­wor­ker oder bei der Arbeits­agen­tur. Der Nächste – nur in weni­gen Spra­chen ist das ein Super­la­tiv. Im Deut­schen ist es so: Nah, näher, am nächs­ten. Der Nächste – eine weitere Stei­ge­rung geht nicht mehr. In kaum einer Spra­che wird die Frage dring­li­cher: „Wer ist denn mein Nächster?“

Wer so fragt, verbaut sich selbst den Ausweg. Du gehst heraus aus diesem Gottes­dienst und fragst: „Wer ist denn mein Nächs­ter?“ Du hast keine Ahnung, wer dir über den Weg laufen wird. Ob es jemand ist, der genau deine Hilfe braucht. Ob du vorbe­rei­test bist auf das, was der andere benö­tigt. Denn beides gehört zusam­men: der offene Blick und die gute Vorbe­rei­tung, Aufmerk­sam­keit für den, der dir begeg­net, und das gute Auge für das, was er braucht.

Genau deshalb ist der Barm­her­zige Sama­ri­ter zum Sinn­bild für die christ­li­che Nächs­ten­liebe gewor­den. An ihm zeigt sich beides: der offene Blick und die soziale Kompe­tenz. Er ist bereit, seine Reise zu unter­bre­chen; aber er hat auch Öl und Wein dabei, um die Schmer­zen zu lindern. Um des Verletz­ten willen plant er seine Zeit neu; aber er hat auch ein Last­tier dabei, um den Verletz­ten dort­hin zu brin­gen, wo er nicht wieder unter die Räuber fällt.

Wach sein und weiter­den­ken, den Nächs­ten im Blick haben und wenn nötig eingrei­fen! Darin zeigt sich christ­li­che Verant­wor­tung. Verant­wor­tung zu lernen, ist der wich­tigste Bildungs­in­halt über­haupt. Wir sind nicht die ersten, die das einse­hen. Die Refor­ma­tion vor beinahe fünf­hun­dert Jahren war nicht nur eine reli­giöse Revo­lu­tion, sondern auch eine Bildungs­in­itia­tive ohne­glei­chen. Sie wollte Wach­sein und Weiter­den­ken aus dem christ­li­chen Glau­ben heraus fördern. Dafür knüpfte sie an wich­tige Tradi­tio­nen an.

Da ist zum Beispiel das Fran­zis­ka­ner­klos­ter in der Mitte Berlins. Ahnungs­los fahren heute viele an der Ruine vorbei. Aber welch eine Geschichte! Dass der Fran­zis­ka­ner­kon­vent den Namen „Graues Klos­ter“ erhielt, geht auf die graue Tracht der Mönche zurück.

Nach der Refor­ma­tion löst sich die Klos­ter­ge­mein­schaft auf. Im ehema­li­gen Klos­ter wird das Berli­ni­sche Gymna­sium zum Grauen Klos­ter einge­rich­tet. Die im Krieg zerstörte Klos­ter­ruine in der Nähe des Berli­ner Rathau­ses erin­nert an diesen Anfang. Über Jahr­zehnte war dort an einen evan­ge­li­schen Schul­be­trieb nicht zu denken. Das Gymna­sium siedelte sich neu an, zuerst in Tempel­hof, dann erst in Wilmers­dorf. Hier hat sich die Schule einen unver­zicht­ba­ren Ort erwor­ben. Doch ich unter­stütze die Hoff­nung, dass auch die Ruine in der Mitte Berlins eines Tages wieder mit Leben erfüllt wird. Es wäre schön, wenn es am einen wie am andern Ort ein Evan­ge­li­sches Gymna­sium gäbe: hier im Südwes­ten genauso wie in der Mitte Berlins.

Der heutige Stand­ort des Gymna­si­ums in Berlin-Wilmers­dorf erzählt die Story Berlins in den letz­ten sechs Jahr­zehn­ten: Verzweif­lung, Zerstö­rung und Kriegs­ende; vom Westen her ein immer schwe­re­rer Zugang zur Mitte Berlins, bis dieser Zugang mit dem Bau der Mauer ganz unmög­lich wird. Einige Entschlos­sene wagen Neues. Evan­ge­li­sche Schu­len gehö­ren dazu, auch dieses Gymna­sium, für das nach weni­gen Jahren ein eige­nes Gebäude geschaf­fen wird. Dann kommen das Wunder der fried­li­chen Revo­lu­tion und der Fall der Mauer, das Geschenk der Wieder­ver­ei­ni­gung vor zwei Jahr­zehn­ten und die neuen Aufbrü­che der letz­ten Jahre.

Graues Klos­ter! Eine eigen­tüm­li­che Faszi­na­tion geht von diesem Namen aus. Die Anzie­hungs­kraft liegt offen­bar am Kontrast. Noch nie habe ich Eltern erlebt, die ihr Kind wirk­lich ins Klos­ter schi­cken woll­ten, wenn sie es im Grauen Klos­ter anmel­de­ten. Und kein Schü­ler denkt an graues Einer­lei, wenn er sich ins Graue Klos­ter auf den Weg macht. Mit der Klei­dung heuti­ger Schü­le­rin­nen und Schü­ler jeden­falls kann ich den Namen nicht in Verbin­dung bringen.

Auf eine beson­dere Weise ist dieser befremd­li­che Name ein Programm. Auch im 21. Jahr­hun­dert ist Bildung auf die Quel­len ange­wie­sen, aus denen sich unser Mensch­sein speist. Deshalb sieht das älteste Berli­ner Gymna­sium alles andere als alt aus. Schü­le­rin­nen und Schü­ler gehen hier aus und ein, die aus dem Geist christ­li­cher Frei­heit heraus bereit sind, Verant­wor­tung zu über­neh­men. Sie wollen dazu beitra­gen, dass unser Land auch morgen und über­mor­gen zukunfts­fä­hig bleibt. Hier lässt sich lernen, im Vertrauen auf Gott den eige­nen Weg zu suchen und ihn aufrecht und frei zu beschrei­ten. Denn das Vertrauen auf die eige­nen Kräfte ist nicht alles. Wer aus den eige­nen Kräf­ten das Beste machen will, muss wissen, dass er sie nicht selbst hervor­bringt. Er empfängt sie als Geschenk. Deshalb versucht er, das Beste daraus zu machen. „Großer Gott, wir loben dich; Herr, wir prei­sen Deine Stärke!“

Wach sein und weiter­den­ken, den Nächs­ten im Blick haben und wenn nötig eingrei­fen! So stelle ich mir Schü­le­rin­nen und Schü­ler des Grauen Klos­ters vor. Die Schule feiert Geburts­tag; und als Gratu­la­tion erhält sie eine der prägen­den Erzäh­lun­gen unse­rer ganzen christ­li­chen Tradi­tion: das Gleich­nis vom barm­her­zi­gen Samariter.

Ein in den jüdi­schen Schrif­ten behei­ma­te­ter Mann kommt zu Jesus, weil dieser als aner­kann­ter „Lehrer“ gilt. Er stellt ihm, wie es unter rabbi­ni­schen Gelehr­ten üblich, eine Frage. Mit dieser Frage fängt alles an: Meis­ter, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? Jesus antwor­tet mit zwei Gegen­fra­gen. Was steht im Gesetz geschrie­ben? Was liest du? Der Schrift­ge­lehrte erklärt, an welchen Grund­sät­zen er sein Leben ausrich­tet. Er kann die Schrif­ten aus dem Kopf zitie­ren. Auswen­dig lernen heißt auf Englisch lear­ning by heart.  »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräf­ten und von ganzem Gemüt, und deinen Nächs­ten wie dich selbst«. 

Jesus veran­lasst den Gesprächs­part­ner, seine Frage selbst zu beant­wor­ten. Der fromme Jude zitiert das Doppel­ge­bot der Liebe. Jesus stimmt ihm zu: Du hast recht geant­wor­tet. Aber er geht weiter. Er prüft sein Herz: Tu das, so wirst du leben. Das ist lear­ning by doing. Denn das Tun ist das wahre Verste­hen des Gesetzes.

Ein Dialog entsteht, weil ein wiss­be­gie­ri­ger Mensch erfah­ren will, was es mit seinem Leben auf sich hat. Er fragt hart­nä­ckig weiter: Wer ist denn mein Nächs­ter? Jesus antwor­tet mit der welt­be­rühm­ten Erzäh­lung vom barm­her­zi­gen Samariter.

Vier Männer auf dem Weg durch die Wüste. Jeder geht allein und nicht im empfoh­le­nen Geleit­zug. So nimmt jeder ein erheb­li­ches Risiko auf sich. Die Orts­kennt­nis vertieft das Verständ­nis. Wer heute den gewun­de­nen bergi­gen Weg von Jeru­sa­lem nach Jeri­cho herab­steigt, der muss einen mäch­ti­gen Höhen­un­ter­schied über­win­den. Jeru­sa­lem liegt etwa 800 Meter über dem Meeres­spie­gel, Jeri­cho zwei­hun­dert­fünf­zig Meter darun­ter. Wegbie­gun­gen und Fels­vor­sprünge bieten güns­tige Hinter­halte im bergi­gen Gelände. Ein idea­ler Ort für plötz­li­che Über­fälle. Früher wurde die Straße Blut­pass genannt. Wer heute von Jeru­sa­lem nach Jeri­cho hinab­steigt, kann die Herkunft des Namens erah­nen. Es ist leicht vorstell­bar, dass der Pries­ter und der Levit auf ihrem Weg zwischen Jeru­sa­lem und Jeri­cho fürch­ten, dass es ihnen ebenso gehen wird wie dem Verwun­de­ten. Gleich werden sie selbst nieder­ge­schla­gen und ausge­raubt. Sie wollen diese no-go-Area so schnell wie möglich hinter sich lassen. Sie fragen sich: „Was wird aus mir, wenn ich jetzt stehen­bleibe, um diesem Mann zu helfen?“

Von Jesus lernen wir, die Frage umzu­keh­ren: „Was wird aus ihm, wenn ich nicht stehen­bleibe, um ihm zu helfen?“ Der Sama­ri­ter stellt die Frage nicht laut. Aber er gibt durch sein Handeln eine klare Antwort.

Er sieht den Halb­to­ten. Sein Schick­sal „jammert“ ihn. Dieses „Jammern“ lässt ihn umkeh­ren, nicht fort, sondern hin zum Über­fal­le­nen direkt in die Todes­zone. Diese Entschei­dung und die ihr folgen­den Hand­griffe machen aus, was seit­dem als Barm­her­zig­keit und Nächs­ten­liebe gewür­digt wird. Ein Mann, der viel zu verlie­ren hat, der Verant­wor­tung eingeht und ein Risiko auf sich nimmt. Ein muti­ger und kompe­ten­ter Helfer, ein groß­zü­gig Sorgender.

Was sollen wir tun? Was nahe liegt. Was in uns liegt. Auch wenn wir manch­mal feige sind, können wir das nächste Mal die Rolle wech­seln. Martin Luther King hat es einmal so gesagt: „Wir können uns nicht länger den Luxus erlau­ben, anein­an­der vorüber­zu­ge­hen. Einst nannte man solchen Irrsinn mora­li­sches Versa­gen; heute würde er zum Selbst­mord der Welt führen. Wir können nicht lange über­le­ben, wenn wir in einer geogra­fisch zusam­men­ge­rück­ten Welt geis­tig vonein­an­der getrennt blei­ben. Ich darf den Mann auf der Straße von Jeru­sa­lem nach Jeri­cho nicht verges­sen, denn er ist ein Teil von mir, wie ich ein Teil von ihm bin. Sein Todes­kampf schwächt mich; seine Rettung erhebt mich.“

„Der Nächste bitte!“ Wer kennt das nicht? In Gedan­ken versun­ken sitzt du im Warte­zim­mer des Arztes und schreckst plötz­lich hoch: „Der Nächste bitte!“ Die Arzt­hel­fe­rin schaut dich freund­lich an und nickt dir zu. Schnell erhebst du dich von deinem Stuhl; beinahe hättest du verpasst, dass du endlich dran bist und dem Arzt deinen schmer­zen­den Knöchel zeigen kannst.

Und jenseits des Warte­zim­mers: Ist der Nächste der Nächstbeste?

Der Nächste – damit sind nicht dieje­ni­gen gemeint, die mir gene­tisch beson­ders nahe stehen. Das wäre Sozi­al­dar­wi­nis­mus – ein Programm zum Schutz der eige­nen Gene. Jesus meint es nicht gene­tisch, sondern konkret. Der Nächste ist der, den Gott mir in den Weg stellt. Dabei gibt es eine wohl­tu­ende Grenze. Wie dich selbst sollst du deinen Nächs­ten lieben. Der Nächste ist nicht dein Gott, genauso wenig wie du selbst dein eige­ner Gott bist. Du sollst deinen Nächs­ten lieben wie dich selbst, nicht mehr aber auch nicht weniger.

Ich danke Gott dafür, dass das Evan­ge­li­sche Gymna­sium zum Grauen Klos­ter ein Ort ist, an dem ohne wenn und aber nach der Wahr­heit gefragt wird. Möge dieses Lehr­ge­spräch nicht abreißen.

Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewe­sen dem, der unter die Räuber gefal­len war Er sprach: Der die Barm­her­zig­keit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desglei­chen! Amen.

Prof. Dr. Wolf­gang Huber war bis 2009 Vorsit­zen­der des Rates der Evan­ge­li­schen Kirche in Deutsch­land und Bischof der Evan­ge­li­schen Kirche Berlin-Bran­den­burg-schle­si­sche Ober­lau­sitz. Die Predigt zum Schul­ju­bi­läum 60 Jahre und 435 Jahre Evan­ge­li­sches Gymna­sium zum Grauen Klos­ter hielt er in einem Rund­funk­got­tes­dienst am 6. Septem­ber 2009 in der Aula der Schule.

Predigt zum Schul­ju­bi­läum des Evan­ge­li­schen Gymna­si­ums zum Grauen Klos­ter am 6.September 2009, in: DAS GRAUE KLOSTER 20010, S. 14 ff.

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