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Gregor Hohberg
Foto: Klemens Renner

In der Mitte der Stadt

Gregor Hohberg

Wenn Sie eine Stadt planen und bauen dürf­ten, was würde für Sie in die Mitte der Stadt gehö­ren? Diese Frage wurde dem Archi­tek­ten Mein­hard von Gerkan gestellt. Er plant und baut zur Zeit mit seinem Hambur­ger Büro in China eine neue Stadt für 300.000 Einwoh­ner. In seiner Antwort verwies er darauf, dass man in den 70er Jahren wohl ein Einkaufs­zen­trum in die Mitte der Stadt gesetzt hätte mit den entspre­chen­den Konse­quen­zen – vornehm­lich brei­ten, auto­ge­rech­ten Verkehrs­we­gen und Park­häu­sern. Das habe dann die Lebens­qua­li­tät der dort wohnen­den Menschen erheb­lich einge­schränkt. Aus diesem Grund hat er für die neue Stadt „Luchano“ eine Mitte ohne Kommerz und Handel entwor­fen. Gedacht ist statt­des­sen daran, einen See von 2,5 Kilo­me­tern Durch­mes­ser anzu­le­gen. Die Mitte der Stadt soll von einem öffent­li­chen, menschen­freund­li­chen Ort geprägt sein, an dem Menschen sich begeg­nen und ins Gespräch kommen können. Ob das reichen wird, um zukunfts­ori­en­tierte Sinn­po­ten­tiale frei­zu­set­zen? Ob die Menschen finden werden, was sie suchen, wenn es sie ins Stadt­zen­trum zieht?

Tradi­tio­nell werden in Europa an die Stadt und insbe­son­dere an ihre Mitte viel weiter­ge­hende Erwar­tun­gen und Ansprü­che gestellt. Eines der ältes­ten Stadt­sym­bole ist das Sonnen­rad. Ein Kreis, der durch ein Achsen­kreuz zu einem Rad mit vier Spei­chen wird. Dieses Ursym­bol meint: die Stadt ist die irdi­sche Sonne, von ihr geht Orien­tie­rung aus, insbe­son­dere von ihrer Mitte, dem Schnitt­punkt der vier Himmels­rich­tun­gen. Wie selbst­ver­ständ­lich wurden die Zentren der Städte Euro­pas darum durch die Jahr­hun­derte hindurch von den herr­schen­den Mäch­ten besetzt. Das waren in der Regel die poli­ti­sche, die ökono­mi­sche und die geist­li­che Macht. Baulich mani­fes­tiert als Rathaus, Markt und Kirche präg­ten sie die Orien­tie­rung, die von der Stadt­mitte ausge­hen sollte und ausging.

Diese klas­si­sche Trias ist selbst im Zentrum von Berlin noch zu erah­nen. Auch wenn hier die poli­ti­sche Macht im Gefolge der Zerstö­run­gen des 2. Welt­krie­ges versucht hat – ohne Rück­sicht auf gewach­sene Struk­tu­ren die sozia­lis­ti­schen Haupt­stadt­pla­nun­gen umset­zend – die Kirchen städ­te­bau­lich zu margi­na­li­sie­ren. Doch es gibt sie noch – Gottes Häuser im Herzen der Stadt, Kirchen, die als Kirchen genutzt werden. Allein die Mari­en­ge­meinde, die fast das gesamte Gebiet der histo­ri­schen Altstadt Berlins umfasst, ist für zwei Kirchen verant­wort­lich. Berlins älteste (durch­ge­hend erhal­tene) Kirche, St. Marien und Berlins erste Barock­kir­che von Rang, die Paro­chi­al­kir­che. Diese Kirchen, ihre Geschichte und ihre Ausstrah­lung und ihre Lage im Zentrum Berlins, in der Haupt­stadt des Landes und damit auch in der ideel­len Mitte des ganzen Landes, sind eine große Heraus­for­de­rung und Chance für den Auftrag der Kirche. Dort, wo alle Menschen und Grup­pie­run­gen hindrän­gen, um wahr­ge­nom­men zu werden mit ihrem Anlie­gen, um sich Gehör zu verschaf­fen mit ihren Vorstel­lun­gen vom Wohl und Wehe der Stadt und des Landes, dort, wo Orien­tie­rungs­an­ge­bote insze­niert werden und die prägen­den Gestal­tungs­kräfte der Gesell­schaft um das zukünf­tige Antlitz des Landes ringen, dort wo Menschen nach Antwor­ten suchen: genau dort stehen unsere Kirchen.

Bis zum heuti­gen Tage halten es Besu­cher, die eine ihnen unbe­kannte Stadt kennen­ler­nen möch­ten, mit gutem Grund so, dass sie die Peri­phe­rie zügig und unbe­se­hen durch­que­ren, um in die Mitte der Stadt zu gelan­gen. Gesucht wird ihr Ursprung, der Ort, von dem alles ausging, der den genius loci, das je Spezi­fi­sche bewahrt und erfahr­bar macht. Die orien­tie­rende Mitte zieht magisch an.

Das gilt auch für Berlin, kann hier aber zu einem bösen Erwa­chen führen. Dort, wo sich vor dem Krieg und dem sozia­lis­ti­schen Umbau die Altstadt, das histo­ri­sche Zentrum Berlins befand, prägen heute zugige Frei­flä­chen, über­di­men­sio­nierte Stra­ßen, Park­häu­ser und gesichts­lose Groß­bau­ten der Spät­mo­derne die Stadt. Der Platz zwischen der Mari­en­kir­che und dem Roten Rathaus ist der größte Platz der Stadt. Er hat nicht einmal einen Namen. Die vielen Namen, die es einst gab, schlum­mern im Unter­grund, denn unter dem Platz liegt ein Drit­tel des alten Berlin begra­ben – Häuser, Gassen, Plätze. An den Rand gedrängt, von Grün­an­la­gen verhüllt St. Marien.

Noch schmerz­haf­ter stellt sich die Situa­tion hinter dem Rathaus, um die Paro­chi­al­kir­che herum, dar. Eine Schnell­straße, zwei neu errich­tete Park­häu­ser und eine Kreu­zung, die über vier Hektar groß ist, tren­nen die Reste des Klos­ter­vier­tels von der Stadt ab und schaf­fen eine unwirt­li­che Verwal­tungs­bra­che, die wirkt, als läge sie an der Peri­phe­rie einer belie­bi­gen Stadt.

Was für eine Art Orien­tie­rung geht von einer Mitte aus, die dem Fort­kom­men und Durch­fah­ren soviel Platz bietet? Warum werden Handel, Konsum und Auto­ver­kehr so viel Platz einge­räumt, genau dort, wo die Menschen nach dem Ursprung Berlins suchen, wo sie über Fragen der Geschichte und Zukunft disku­tie­ren wollen?

Die derzei­tige Bebau­ung des Stadt­zen­trums nimmt weder Bezug auf die Geschichte der Stadt, noch bietet sie den Menschen genü­gend öffent­li­chen Raum für Begeg­nung und Diskurs.

Die Mari­en­ge­meinde begrüßt und unter­stützt darum ausdrück­lich die Pläne des Senats zur Reur­ba­ni­sie­rung des Klos­ter­vier­tels, insbe­son­dere den Master­plan des Büros Riemann und Luther. Dieser Entwurf verdeut­licht, dass sich riesige Poten­tiale zur Wieder­be­le­bung der Berli­ner Altstadt frei­set­zen lassen, wenn man unbe­fan­gen und ohne ideo­lo­gi­sche Scheu­klap­pen die vorhan­de­nen „konfes­sio­nell gepräg­ten Orte“ der Innen­stadt wahr­nimmt und nutzt als das, was sie immer waren und wieder sein soll­ten: „geis­ti­ger und kultu­rel­ler (und geist­li­cher) roter Faden“ des histo­ri­schen Zentrums von Berlin. Im Klos­ter­vier­tel wären das die Paro­chi­al­kir­che, der Jüden­hof, wenn er denn von der jüdi­schen Gemeinde mit Leben erfüllt wird und die Klos­ter­kir­che als Herz des am histo­ri­schen Ort wieder­erste­hen­den Evan­ge­li­schen Gymna­si­ums zum Grauen Klos­ter. Das Anknüp­fen an beste Berli­ner Bildungs­tra­di­tion, die das Graue Klos­ter verkör­pert, die Wieder­be­le­bung der Klos­ter­kir­che durch die Verknüp­fung mit dieser altehr­wür­di­gen Insti­tu­tion, eine zukunfts­ori­en­tierte Schule fest verwur­zelt im Gedächt­nis der Stadt und in der Reli­gion des Abend­lan­des – etwas Besse­res kann dem Klos­ter­vier­tel und kann Berlin-Mitte nicht widerfahren.

Wenn ich eine Stadt bauen dürfte, dann würde ich eine Kirche in ihre Mitte stellen.

In der Mitte Berlins befin­den sich bereits Kirchen. Wir soll­ten alles dran setzen, der Stadt ins Gedächt­nis rufen, was sie an den Kirchen hat. Gerade auch durch die Kirchen, nicht durch Verwal­tungs­ge­bäude oder Einkaufs­zen­tren, wird das unver­wech­sel­bare Gesicht einer Stadt geprägt. Es geht dabei nicht nur um den ästhe­ti­schen Aspekt, um die Freude an einer schö­nen Stadt. Für die Seele einer Stadt und für die ihrer Bewoh­ner sind „Hete­ro­to­pien“ nötig, andere Orte, die unver­wech­sel­bar für das Blei­bende stehen, die auf Ursprung und Herkunft verwei­sen. Kirchen sind Rege­ne­ra­ti­ons­orte für die Seele des Menschen und der Stadt, sie sind Herber­gen für verdrängte Gefühle, Segens­räume für das Leben und Dialogräume für den Stadtfrieden.

In all dem deuten sich Möglich­kei­ten an, die wir als Kirchen­ge­meinde nicht allein ausschöp­fen können und auch allein ausschöp­fen wollen. Im Gegen­teil, wir sind uns bewusst, dass unsere Kirchen eben­so­viel Stadt wie Reli­gion reprä­sen­tie­ren, und wir hoffen darauf, dass die Berli­ne­rin­nen und Berli­ner in stär­ke­rem Maße als in den letz­ten Jahr­zehn­ten Mitge­stal­ter ihrer Kirchen sein werden, dass sie Inter­esse zeigen für eine Kirche, die in sorg­sa­mer Wach­heit zum Wohle der Stadt den christ­li­chen Glau­ben lebt.

Die Mari­en­ge­meinde sieht sich dabei in einer Jahr­hun­derte alten Tradi­tion eines sich gegen­sei­tig berei­chern­den Mitein­an­ders von Bürger­ge­sell­schaft und Kirche. Diese Tradi­tion zeit­ge­mäß zu entfal­ten, ist der Mari­en­ge­meinde ein zentra­les Anlie­gen. Wir wünschen uns die breite Parti­zi­pa­tion an Nutzung und Pflege unse­rer Kirchen, dieser Stadt­sym­bole, dieser Schatz­häu­ser der Berli­ner Geschichte, dieser Orte, die das Gewis­sen schär­fen und dieser Hoff­nungs­in­seln im Meer der Zeit. Für sie ist ein bebau­tes und bewohn­ba­res Umfeld wich­tig, ein Umfeld, das diese altehr­wür­di­gen Steine fasst, das sich auf die histo­ri­sche Struk­tur Altber­lins bezieht, kurzum: das den alten Stadt­kir­chen die Stadt zurück­gibt, die Stadt und ihre Bewohner.

Das Klos­ter­vier­tel, dieser Urort Berlins, schreit nach Befrei­ung von Brach­flä­chen und sehnt sich nach einem mensch­li­chen Maß und nach Bewoh­nern, die es ins Herz der Stadt zieht – um der Seele willen und für Berlin.

Gregor Hohberg ist Pfar­rer der Marien- und Paro­chial-Gemeinde in Berlin-Mitte. Sein Plädoyer für die Mitte der Stadt hielt Pfar­rer Hohberg im Rahmen eines Archi­tek­tur­ge­sprächs zur Planung des Klos­ter­vier­tels in der Paro­chi­al­kir­che am 26.4.2005.

Vortrag im Rahmen eines Archi­tek­tur­ge­sprächs in der Paro­chi­al­kir­che am 26. April 2005, in: DAS GRAUE KLOSTER 2008, S. 52 f.

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