Blick vom Turmberg über Durlach und Karlsruhe bis zum Pfälzerwald am Westrand der Oberrheinischen Tiefebene
Foto: Rudolf Simon, wikimedia commons
Der Auftrag der alten Sprachen heute
Von Dr. Klaus Philipp Seif
Sprachen vergeben keine Aufträge, auch die alten Sprachen nicht. Von uns hängt es ab, welchen Auftrag wir den alten Sprachen geben.
Und welche Aufträge wir vergeben, dies hängt wesentlich davon ab, was wir ihnen zutrauen, an und für sich und in Vergleich zu konkurrierenden Bildungs- und Gestaltungselementen des menschlichen Lebens.
Was trauen wir den alten Sprachen zu?
2.1 Erfahrungen und Studien
Einem guten Kollegen, Chef der Bildung in einem internationalen Unternehmen, habe ich vor einigen Tagen per E‑mail signalisiert: Falls Du im Hinblick auf die Erfordernisse in Unternehmen Hinweise hinsichtlich der Sinnhaftigkeit des Erlernens alter Sprachen für mich hast, so sind diese hochwillkommen.
Seine Antwort: Sorry to say dass wir den Fokus ganz klar auf die englische Sprache richten sollten. Und alte Sprachen? Ich beneide jeden, der Latein beherrscht: Als Basis für andere Sprachen, ganz einfach als Allgemeinbildung und als Schule des Denkens. Schön, wenn ein Bewerber dies mitbringt, aber nicht crucial. Immerhin hat er dann ein mit Fragezeichen versehenes “oder ?” angefügt.
Wozu die alten Sprachen? Von wegen “non scholae sed vitae discimus”. Nicht entscheidend, so die Diagnose, nice to have, nice to know, würde es gerne können, aber eigentlich brauche ich es nicht.
Dies ist keine Einzelstimme. Das Institut der deutschen Wirtschaft hat im Jahr 2001 eine Studie publiziert: “Mit Vergil in die Wirtschaft?” Unter diesem mit Fragezeichen versehenen Titel wurde die Bedeutung des Lateinlernens aus der Sicht der Berufspraxis untersucht und dazu mehr als 1300 Mitarbeiter von Unternehmen bei einer Rücklaufquote von fast 30% befragt. Ergebnis: Wer Latein in der Schule gelernt hat, betont die positiven Wirkungen des Faches , wer moderne Sprachen gelernt hat, vermisst die von den Lateinern angeführten positiven Effekte kaum. Warum? Weil die immer wieder genannten Vorteile einer schulischen Beschäftigung mit dem Latein auch auf anderem Weg erreichbar ist und offenbar auch erreicht wird. Viel wichtiger, so das klare Votum, sind die modernen Fremdsprachen. Vor allem English, English, English.
2.2 Was die alten Sprachen bewirken können
Immerhin: den alten Sprachen trauen wir vieles zu:
- die Eröffnung des Zugangs zur abendländischen Tradition
- ein erleichterter Erwerb neuerer Sprachen
- gefördert werden logisches Denken, Abstraktionsvermögen, Textverständnis, sprachliches Ausdrucksvermögen und Dialogfähigkeit, Weitung des Horizonts.
Unterstellt, all dies trifft zu, bleibt dennoch der folgende Tatbestand: Sie sind nicht das exklusive Instrument, um all dies zu erreichen. Es geht auch anders, es geht auch mit anderen Mitteln.
So steht der positive Effekt auf das Erlernen anderer Sprachen außer Zweifel, doch läßt er sich auch über die modernen romanischen Sprachen erreichen. Hinzukommt, daß bei Latein als zweiter Fremdsprache die Transferleistung eher von der Modernen Sprache zum Latein erfolgt als vom Latein zur modernen Fremdsprache.
Die Schulung des systematischen Denkens und des Abstraktionsvermögens, immer wieder genannt: Mathematik und insbesondere Beschäftigung mit axiomatischen Systemen und logischen Regeln versprechen vergleichbare Ergebnisse.
Zugang zur abendländischen Tradition: Genügen dazu nicht Übersetzungen? Ist der Weg über das Erlernen der lateinischen oder griechischen Sprache nicht zu weit und zeitraubend?
Also noch einmal den gleichen Sachverhalt anders formuliert: Den alten Sprachen werden diese Wertschöpfungen zugetraut, doch sie sind weder notwendige noch hinreichende Bedingung dafür, diese Effekte zu erreichen. Alte Sprachen werden weder als der einzige noch als der Königsweg zu diesen Wirkungen gesehen, eher schon als ein zeit- und energieintensiver Weg, dem außerdem die kommunikative Funktion praktisch fehlt.
2.3 Wertschöpfung durch alte Sprachen für die Wirtschaft
Konkretes Beispiel hierzu aus der Wirtschaft:
Worauf achten die Rekrutierer und Personalentwickler? Natürlich spielen Fachkenntnisse eine Rolle, die im Studium und in der beruflichen Praxis erworben worden sind. Daneben aber kommt es an auf persönliche Dispositionen , also auf das intellektuelle Vermögen – analytisch, synthetisch, assoziativ -, sprachlich gleichermaßen, auf die konzeptionellen Stärken theoretisch wie praktisch, auf die Fähigkeit mit Anderen und anderen Kulturen zu kommunizieren, sie zu verstehen, mit ihnen in Dialog zu treten und auf die Fähigkeit, Einfluss auszuüben, zu steuern. Es sind gerade diese als sehr wichtig eingestuften fachunabhängigen persönlichen Fähigkeiten, bei denen die größten Defizite erlebt werden (Team, Kommunikation, Kundenorientierung). Beim Abiturzeugnis interessieren in erster Linie Deutsch und Mathe: weil die Beurteiler daraus Rückschlüsse auf Ausdrucksvermögen und Abtraktionsvermögen ziehen.
Wozu benötige ich also Latein? Es verschafft mir keinen direkten Vorteil, denn
- es schafft keinen operativen Nutzen in Form der Kommunikationsfähigkeit wie etwa die englische Sprache
- selbst hinsichtlich der strategisch als wichtig erachteten Dispositionen erfolgt in der betrieblichen Diagnose keine Zuordnung im Sinne eines ursächlichen Zusammenhanges.
Und eine ursächliche Zuordnung im Sinne der notwendigen oder hinreichenden Verknüpfung wäre in der Tat nicht gerechtfertigt.
Aber wo gibt es diese schon im Bereich der Bildung? Sehr wohl aber kann von erwiesener, da aktualisierter Möglichkeit gesprochen werden: Es gibt genügend Beispiele für eingelöste Erwartung. Und diese Erwartungen, die an eine Beschäftigung mit den Texten der antiken Philosophen und Redner und Historiographen anknüpfen, sind verlockend:
- logische Schärfe,
- rhetorische Brillanz
- gepaart mit gedanklicher Tiefenschärfe
- und ideengeschichtlicher Breite.
Immerhin waren selbst die großen amerikanischen Redner wie Lincoln und Everett, eifrige Studenten der antiken Texte und von J.F.Kennedy ist bekannt (Schlesinger hat davon berichtet), dass er sich von Jackie auf rhetorische Wirksamkeit zielende Exzerpte aus Ciceroreden anfertigen ließ.
Sind für logische Schärfe, rhetorische Brillanz, Tiefe und Breite des Denkens , sind für all dies die alten Sprachen unverzichtbar? Klare Antwort: Natürlich Nein. Auch andere Wege führen dorthin. Aber: Dieses Cluster an positiven Wirkungen kann durch kein andersgeartetes einzelnes Bildungselement erreicht werden.
Meine erste zusammenfassende These lautet deshalb:
In ihrer multifunktionalen Bildungswirkung ist die Beschäftigung mit den antiken Texten einzigartig und durch kein einzelnes anderes Bildungselement zu substituieren.
Es bleibt das Handicap der fehlenden Kommunikationsfunktion, es bleibt der hohe Aufwand, der statt dessen in das so wichtige Erlernen moderner Fremdsprachen investiert werden könnte. Das ist der Preis, billiger ist es nicht zu haben. Angesichts dessen, und angesichts der Tatsache, dass die Wirkungen alter Sprachen auch auf mehreren anderen Wegen vielleicht weniger mühevoll, vielleicht auch mit noch mehr zu leistendem Einsatz erzielt werden können, noch einmal die verschärfte Frage: Gibt es eine einzigartige Leistung, die nur durch die Aneignung alter Sprachen gesichert werden kann? Für die also die alten Sprachen unverzichtbar sind.
Die unverzichtbare Leistung der alten Sprachen
Anders gefragt: Was geben wir auf, wenn wir die alten Sprachen aufgeben?
Eine Sprache als Instrument kann nie letztlich in sich unverzichtbar sein, sondern im Hinblick auf ein angestrebtes Ziel notwendig und deshalb unverzichtbar sein.
Hierzu meine zweite These:
Wer auf alte Sprachen verzichtet, verzichtet auf einen wichtigen Teil unseres kollektiven Bewusstseins.
Was ist damit gemeint?
Sprachen sind der Schlüssel zu den einzelnen historischen Welten dieser Welt. Sie formen diese Welten und diese sind ohne sie allenfalls fragmentarisch zugänglich. Wer auf die alten Sprachen verzichtet, verzichtet weitgehend auf diese Welten. Er wird sie nicht mehr verstehen. So what? Ganz einfach: Verloren geht ein gedanklicher Schatz ohne Verfallsdatum. Es droht eine diachrone Kommunikationssperre und Bewusstseinsblockade.
Aber könnte man nicht diesen Schatz bewahren, ohne die alten Sprachen in den Bildungskanon aufzunehmen? Genügen nicht Übersetzungen, denn es kommt doch letztlich auf die Inhalte dieser Texte, weniger auf ihre sprachliche Form an?
Wir wissen alle: letztlich verständlich wird ein Text nur im Original bzw. in Auseinandersetzung der Übersetzung mit dem Original. Und weiter: Gibt man Schülern und Schülerinnen in der Schule nicht einmal die Schlüssel zur Welt der Antike, so gerät diese in die Gefahr kollektiv vergessen zu werden.
Wer kennt schon das Mahabharata ? Wenn Sanskrit Schulfach wäre, wäre es Allgemeingut.
Es geht darum,
ob wir wollen, dass diese grundlegenden aus der Vergangenheit herübergeretteten Zeugnisse menschlichen Denkens und Sprechens auch heute noch ihre Wirkung behalten,
ob wir wollen, dass auch unsere Zeit und künftige Zeiten sich von Reflexionen zu Fundamentalfragen menschlicher Existenz inspirieren lassen, zu Rationalität und Emotionalität, zur Gesellschaftsform und zu gesellschaftlichen Normen, deren Geltung und Begründung, zu realitätsformenden Kategorien wie Form und Materie, Natur und menschliche Setzung, (dass wir durch all dies inspiriert werden)
ob wir wollen, dass wir durch das, was hier exemplarisch und in Distanz zu uns heute bedacht und durchdacht wurde, Befreiungschancen aus Denk- und Existenzzwängen der Gegenwart eröffnen,
Ob wir all dies wollen, das muss im gesellschaftlichen Diskurs immer wieder entschieden werden. Dabei aber sollten alle zumindest wissen, worum es eigentlich geht.
Dafür muss derjenige, der die Tradition der Antike als Werte für die Gegenwart erkannt hat, streiten und kämpfen.
Und die Schule muss dann entsprechend handeln.
Forderungen an die Schule
In meiner dritten These geht es um die Zielsetzung einer gegenwärtigen Beschäftigung mit alten Sprachen:
Die Bewahrung der alten Sprachen darf nicht in historischer Absicht erfolgen, sie sollte vielmehr ins Zentrum der Gegenwart und in das Zentrum unserer Zukunftsplanung zielen.
Was bedeutet dies für die Schule, für Latein/Griechisch als Schulfächer?
Es muss die Möglichkeit bestehen, alte Sprachen in der Schule zu lernen
Der Unterricht muss inhaltsbezogen sein: auf die Texte der Philosophen, Redner und Historiographen
Die vermittelten Inhalte dürfen nicht museal oder historisch sein, sondern “gefährlich” für die Gegenwart.
Die Inhalte zum Leben zu erwecken, bedeutet: die angeführten formalen Dispositionen zu schärfen für die Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft:
- stringentes Denken: durch Lektüre entsprechender Texte (Aristoteles) und der Analyse politischer Reden und Entscheidungsvorlagen von Enquete-Kommissionen der Gegenwart mit den Instrumenten und Begrifflichen Instrumentarium der klassischen Logik
- rhetorische Brillanz: Analyse von Reden mit Hilfe des Rhetorik-instrumentariums der Antike (vgl. Jochen Buchsteiner, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung)
- Debating/Dialogfähigkeit: auf dem Boden der logischen und rhetorischen Instrumente drängende Fragen der Zeit/Themen aus anderen Fächern in Debatingclubs, die es professionell zu schulen gilt, zu behandeln.
Beschäftigung mit antiken Autoren hat derartige Potenz.
Es gilt zu verhindern, dass ein tumbes operatives Kommunikationsinteresse ausgespielt wird gegen ein weitreichendes strategisches Bildungsinteresse, das auf fundamentale menschliche Dispositionen zielt und wirkt.
Statement von Dr. Klaus Philipp Seif, Leiter der Abteilung Kultur, Sport und Sozialberatung der BASF SE, während des Altsprachlichen Symposions am 14. März 2002 in Karlsruhe